Else Panneks Website Narzissenleuchten.de
Homo mediens "Auaaa! Schubs mich nicht! Pass doch auf, alter Piesepampel!" "Nun geh' schneller, du Schlafmütze! Oder lass mich vorbei!" "Langsam, Kinder", rief der Lehrer, "langsam! Oben ist Platz genug. Alle werden gut sehen können!" Unbeeindruckt stürmten die Kinder die Treppe hinauf. "Besuch im Zoo. Das gibt bestimmt eine Klassenarbeit", meinte
jemand. "Nein, es wird eine Hausaufgabe", verriet die Lehrerin. Dann begann der Wärter mit der Führung: "Wie ihr alle
wisst, sind die Homo mediens der Teil unserer Vorfahren, bei dem die
menschliche Weiterentwicklung nicht stattgefunden hat. Hier seht
ihr sie in Aktion. Sie sitzen in bequemen Sesseln, auf gepolsterten
Sofas oder auf dem weichen Teppich und schauen unentwegt auf den Bildschirm.
Wir haben ihre Behausung den Bedürfnissen angepasst und
besitzen Fernsehkonserven für mehrere Jahre. Einmal, als
alle gesendet waren, befürchteten wir, die Homo mediens könnten
Schaden nehmen, wenn sie ihrer gewohnten Beschäftigung beraubt
wären. Wir trauten uns kaum, die Sendungen zu wiederholen, aber
uns blieb gar nichts anderes übrig. So wiederholten wir
und stellten fest: Homo mediens konsumieren alles. Beim Fernsehen nehmen
sie mit Vorliebe Salzstangen, Kartoffelchips, Erdnüsse oder Süßigkeiten
zu sich. Bei dieser Lebensweise bildeten sich, im Laufe der Zeit,
Hände und Füße zu kleinen, schmalen Flossen zurück.
Die Sitzfläche dagegen prägte sich stark aus. Professor
Molzheimer, der die Lebens und Ausdrucksweise der Homo mediens
erforschte, fand heraus, dass Begriffe wie Denken, Fühlen und Handeln
fehlen. Sie müssen ihnen, vermutlich durch ihre Art zu leben, irgendwann
abhanden gekommen sein. Die Schüler wurden unruhig. "Das ist ja langweilig! Tun die
auch mal was?" "Da, sieh, dort kommt ein Wärter
und bringt das Essen. Jetzt müssen sie sich bewegen!" "Sagen sie mal, Herr Wärter, was essen die da?" wollte jemand wissen, "Sie kauen so lustlos. Schmeckt das nicht?" "Doch, das schmeckt", antwortete der Wärter. "Die Mahlzeiten, die wir ihnen geben, sind gut und schmackhaft. Sie haben nur keinen Appetit. Sie bewegen sich zu wenig und essen auch noch beim Fernsehen." Der Essensduft stieg zur Galerie empor. "Hmm, es duftet wirklich gut! Und die stochern so gleichgültig in ihrem Essen herum!" Ein junger Homo mediens, vertieft in das Geschehen auf dem Bildschirm,
steckte statt der Gabel das Messer in den Mund. Seine Mutter sah gerade
beim Umblättern einer Zeitschrift auf. Blitzschnell ergriff sie
die Fernbedienung, die vor seinen Flossen lag, und orderte das Erziehungsprogramm
Lektion "Benehmen bei Tisch". Das Gesicht ihres Sprösslings
wurde zusehends länger. Der Lehrer reckte sich, erhob Kopf und Stimme: "Wir gehen jetzt
hinaus, setzen uns auf den Rasen und hören etwas über den
Nachwuchs der Homo mediens." "Jetzt kommt etwas Besonderes. Dort drüben", der Wärter
wies auf ein kleines Haus, das in einem blühenden Garten stand,
"dort drüben ist unsere Aufzuchtstation. Wir werden
nur kurz hineinschauen, um das Kleine nicht zu stören. Es ist jetzt
drei Monate alt. Um die Homo mediens zur Fortpflanzung zu bewegen, bedarf
es eines Tricks. Ein vorgetäuschter Stromausfall, einige fernsehfreie
Abende führten hier zum Erfolg. Bei diesen Worten wurde es still. Leise gingen die Kinder durch den
Garten zu dem kleinen Haus und sahen ins Fenster. Das kleine Homo mediens sah Zoobesucher durch ein Fenster starren,
das den Rahmen eines Bildschirms hatte, und lächelte ein
Plüschtier an, dessen Schlappohren über Kopfhörer fielen. 6.1.87 (Schulausflug vom 6.3.86 geändert)
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