Else Panneks Website Narzissenleuchten.de

 

 

 

Homo mediens


"Auaaa! Schubs mich nicht! — Pass doch auf, alter Piesepampel!" "Nun geh' schneller, du Schlafmütze! — Oder lass mich vorbei!" "Langsam, Kinder", rief der Lehrer, "langsam! Oben ist Platz genug. Alle werden gut sehen können!" Unbeeindruckt stürmten die Kinder die Treppe hinauf.

"Besuch im Zoo. Das gibt bestimmt eine Klassenarbeit", meinte jemand. "Nein, es wird eine Hausaufgabe", verriet die Lehrerin.
Auf der Galerie, die in Dachhöhe um das Haus der Homo mediens führte, drängelten und schubsten sich die Schulkinder, bis jedes einen Platz gefunden hatte. Einige legten die Arme auf das Geländer, stützten den Kopf in die Hände und gaben ihrem Erstaunen lautstark Ausdruck: "Guck mal, wie die da sitzen und in die Röhre glotzen!" — "Und das bei diesem schönen Wetter!"
"Nein, das gibt's nicht, die sehen einen Naturfilm und könnten es vor ihrer Tür wirklich sehen!"
"Der da sieht aber Fußball!" — "Ach du spinnst, das ist doch Tennis!" — "Denkste, jeder sieht was anderes. Alle haben einen eigenen Fernsehapparat und dazu Kopfhörer." — "Ach sooo!" "Siehst du den da? — Der ist bestimmt nicht echt. — Vielleicht aus der Art geschlagen? — Er sieht nicht mal fern." — "Aber berieseln lässt der sich auch, oder hast du Tomaten auf den Augen? Er hat einen Walkman und blättert in Illustrierten. — Also doch, ein echter Homo mediens!"

Dann begann der Wärter mit der Führung: "Wie ihr alle wisst, sind die Homo mediens der Teil unserer Vorfahren, bei dem die menschliche Weiterentwicklung nicht stattgefunden hat. — Hier seht ihr sie in Aktion. Sie sitzen in bequemen Sesseln, auf gepolsterten Sofas oder auf dem weichen Teppich und schauen unentwegt auf den Bildschirm. — Wir haben ihre Behausung den Bedürfnissen angepasst und besitzen Fernsehkonserven für mehrere Jahre. — Einmal, als alle gesendet waren, befürchteten wir, die Homo mediens könnten Schaden nehmen, wenn sie ihrer gewohnten Beschäftigung beraubt wären. Wir trauten uns kaum, die Sendungen zu wiederholen, aber uns blieb gar nichts anderes übrig. — So wiederholten wir und stellten fest: Homo mediens konsumieren alles. Beim Fernsehen nehmen sie mit Vorliebe Salzstangen, Kartoffelchips, Erdnüsse oder Süßigkeiten zu sich. — Bei dieser Lebensweise bildeten sich, im Laufe der Zeit, Hände und Füße zu kleinen, schmalen Flossen zurück. Die Sitzfläche dagegen prägte sich stark aus. — Professor Molzheimer, der die Lebens— und Ausdrucksweise der Homo mediens erforschte, fand heraus, dass Begriffe wie Denken, Fühlen und Handeln fehlen. Sie müssen ihnen, vermutlich durch ihre Art zu leben, irgendwann abhanden gekommen sein.
Sie leben nebeneinander her, führen selten Gespräche, und die sind nicht das, was wir darunter verstehen."

Die Schüler wurden unruhig. "Das ist ja langweilig! Tun die auch mal was?"— "Da, sieh, dort kommt ein Wärter und bringt das Essen. Jetzt müssen sie sich bewegen!"
Schwerfällig erhoben sich die Homo mediens aus ihren Polstern, watschelten zum Esstisch und plumpsten auf die Stühle. Mittels Knopfdrucks drehten sie ihre Bildschirme so, dass sie die Sendungen weiter verfolgen konnten. Ob sie Notiz voneinander nahmen, war nicht zu bemerken.

"Sagen sie mal, Herr Wärter, was essen die da?" wollte jemand wissen, "Sie kauen so lustlos. Schmeckt das nicht?" "Doch, das schmeckt", antwortete der Wärter. "Die Mahlzeiten, die wir ihnen geben, sind gut und schmackhaft.— Sie haben nur keinen Appetit. Sie bewegen sich zu wenig und essen auch noch beim Fernsehen." — Der Essensduft stieg zur Galerie empor. "Hmm, es duftet wirklich gut! — Und die stochern so gleichgültig in ihrem Essen herum!"

Ein junger Homo mediens, vertieft in das Geschehen auf dem Bildschirm, steckte statt der Gabel das Messer in den Mund. Seine Mutter sah gerade beim Umblättern einer Zeitschrift auf. Blitzschnell ergriff sie die Fernbedienung, die vor seinen Flossen lag, und orderte das Erziehungsprogramm Lektion "Benehmen bei Tisch". Das Gesicht ihres Sprösslings wurde zusehends länger.
"Das nennen sie Erziehung", erläuterte der Wärter. "Aber sie sagt doch gar nichts", wunderte sich ein Schulkind. "Das wäre zwecklos, der Junge trägt Kopfhörer."

Der Lehrer reckte sich, erhob Kopf und Stimme: "Wir gehen jetzt hinaus, setzen uns auf den Rasen und hören etwas über den Nachwuchs der Homo mediens."
Alle stürmten hinaus, setzten sich und lauschten.

"Jetzt kommt etwas Besonderes. Dort drüben", der Wärter wies auf ein kleines Haus, das in einem blühenden Garten stand, "dort drüben ist unsere Aufzuchtstation. — Wir werden nur kurz hineinschauen, um das Kleine nicht zu stören. Es ist jetzt drei Monate alt. Um die Homo mediens zur Fortpflanzung zu bewegen, bedarf es eines Tricks. Ein vorgetäuschter Stromausfall, einige fernsehfreie Abende führten hier zum Erfolg.
Die Kleinen kommen gleich nach der Geburt in die Aufzuchtstation. Sie bei ihren Artgenossen zu belassen, ist ein zu großes Risiko. Dann werden sie entweder vergessen oder überfüttert.
Wir behalten sie auf der Station, bis sie sich einigermaßen selbst behelfen können, den Walkman akzeptieren, lange vor dem Bildschirm ausharren und keine Fragen mehr stellen.
Unser Kleines gedeiht prächtig. Es lächelt sein Plüschtier an und schmiegt sich an eine künstliche Mutter. Das ist ein kuschelweiches, Wärme ausstrahlendes Kissen. — Junge Homo mediens, die während ihrer ersten Lebenszeit Wärme spüren, gedeihen sichtlich besser."

Bei diesen Worten wurde es still. Leise gingen die Kinder durch den Garten zu dem kleinen Haus und sahen ins Fenster.
Dort lag das Kleine und nuckelte an der Flosse. Es drehte den Kopf und schaute sie mit großen Augen an.
Ein kleines Wesen, das leben, wachsen, sich entwickeln wollte. Und das dafür alle Möglichkeiten brauchte.
"Ich glaube, sie sind zu anderem geschaffen, als zu dem, was sie tun", sagte jemand.

Das kleine Homo mediens sah Zoobesucher durch ein Fenster starren, das den Rahmen eines Bildschirms hatte, — und lächelte ein Plüschtier an, dessen Schlappohren über Kopfhörer fielen.


6.1.87 (Schulausflug vom 6.3.86 geändert)